Innovation für MS-Betroffene: Ein Superheldenanzug mit 58 Elektroden holt schwer erkrankte Mutter zurück ins Leben
Mit siebzehn bekam Kerstin die Diagnose Multiple Sklerose gestellt. Ihr Zustand verschlimmerte sich mit den Jahren drastisch, sodass sie seit Ende 2021 auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Ihr ständiger Begleiter: Die Schmerzen, ausgelöst durch Spastiken. Täglich muss sie bis zu dreißig Tabletten und ärztliche Betäubungsmittel einnehmen. Die gelernte Erzieherin ist eine von mehr als 120.000 MS-Erkrankten in Deutschland¹, die häufigste neurologische Erkrankung, die im jungen Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung führt. Betroffen sind vor allem Frauen, sie erkranken doppelt so häufig wie Männer². Rund 75 Prozent der Betroffenen haben – gerade zu Beginn – einen schubförmigen Verlauf³. Heilbar ist MS bisher nicht. Herkömmliche medikamentöse Therapien setzen hauptsächlich darauf, die Schubfrequenz zu reduzieren. Doch was ist nach dem Schub, wenn die Krankheit fortgeschritten und eine Therapie nicht mehr möglich ist?
Auf Instagram wurde die heute 40-jährige zweifache Mama auf einen mit 58 Elektroden ausgestatteten Neuromodulationsanzug aufmerksam. Der in Schweden entwickelte Exopulse Mollii Suit ist weltweit einzigartig und setzt auf das Prinzip der reziproken Hemmung bei spastisch-bedingten Muskelverspannungen. Damit verhilft der Anzug Betroffenen schonend zu gezielter, schneller und anhaltender Entlastung. Heute klärt Kerstin auf Instagram über die Wirkung des Anzugs auf und gibt anderen Betroffenen Hoffnung: Kerstin (@mamamitms) • Instagram-Fotos und -Videos
Als Kerstin als Jugendliche die Diagnose Multiple Sklerose gestellt wird, spürt sie zunächst eins: Erleichterung. Denn endlich haben ihre Symptome einen Namen. Bei MS ist aus bisher ungeklärter Ursache die Isolierschicht Myelin, die die Nervenfasern umhüllt, irreversibel geschädigt. Zu den häufigsten Symptomen zählen u.a. motorische Störungen, Erschöpfungszustände sowie eine Lähmung der Extremitäten. Bestimmte Muskeln sind dadurch kontinuierlich angespannt, verhärten sich, werden steif und beeinträchtigen alltägliche Bewegungen. Die Krankheit legt nach und nach wortwörtlich ihr komplettes Leben lahm: „Die MS hat mich immer eingeschränkt, jede Sekunde meines Lebens. Ich konnte weder frei atmen noch konnte ich mich frei bewegen. Und die größte Hürde an sich ist die Umgebung“, beschreibt sie den Einfluss auf ihr Alltagsleben.
Seit November 2021 sitzt sie dauerhaft im Rollstuhl – ein Hilfsmittel, dass sie grundlegend schätzt. Doch der Körper ist nicht dafür ausgelegt, stundenlang sitzend in der gleichen Position zu verbringen. Hinzu kommt das Gefühl, als Person nicht wahrgenommen zu werden, wenn sie im Rollstuhl nur noch halb so groß ist wie alle anderen und einfach zur Seite geschoben wird. „Der Rollstuhl an sich, das ist alles gar nicht so wild. Die Umgebung ist das große Problem, vor allem dort, wo ich lebe. Das ist tiefstes Land, ein Dorf mit dreihundert Einwohnern. Ich bin so ziemlich die einzige Rollstuhlfahrerin, die man überhaupt außerhalb ihrer vier Wände sieht. Das ist eigentlich die größte Hürde: Es gibt keinen barrierefreien Kindergarten, keine barrierefreie Schule, keinen barrierefreien Veranstaltungsort, keinen barrierefreien Arzt, keine barrierefreien Therapeuten.“ Das führt dazu, dass Kerstin, eigentlich ein sehr geselliger Mensch, mehr und mehr vom gesellschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen wird: Sie kann das Schulkonzert ihres Sohnes nicht besuchen, ihre Tochter in die Kita bringen und verpasst Geburtstage von Freund:innen.
Die Spastiken und die damit verbundenen Schmerzen werden zu ihrem ständigen Begleiter und fesseln sie ans Haus. „Ich habe nur noch existiert. Also ich war am Leben, aber da war ich nicht wirklich“, beschreibt Kerstin diese Phase ihrer Erkrankung. „Für meine Kinder ist die Entwicklung der letzten Jahre natürlich ein absoluter Horror gewesen. Mein Sohn kennt mich noch gehend, stehend, laufend und berufstätig. Meine Tochter nicht mehr und für sie war das die absolute Hölle.“ Die ehemalige Erzieherin nimmt täglich bis zu 30 Tabletten ein, die Linderung verschaffen sollen, aber sie auch benebeln. Trotzdem bleiben die Schmerzen und sie schläft phasenweise nicht mehr als dreißig Minuten am Stück. Kerstins Physiotherapie verläuft nur noch palliativ und sie lebt von Tag zu Tag, ohne einen Gedanken an die Zukunft.
Unerwartete Hoffnung für Kerstin: Ein Neuromodulationsanzug, den sie auf der Social Media-Plattform Instagram entdeckt hat. Beim Scrollen bleibt sie an einem Video von einer jungen Frau hängen, die ebenfalls an MS erkrankt ist. Dank des Anzugs kann sie wieder laufen, schreiben, ein Glas Wasser halten und hat deutlich weniger Spastiken – und damit auch weniger Schmerzen. Kerstins erster Gedanke: „Das ist doch fake.“ Aber ihre Neugier ist geweckt und auch ein Fünkchen Hoffnung, weshalb sie zu der Frau auf Instagram Kontakt aufnimmt und den Anzug an sich testen will. Mittlerweile verhindern ihre steifen Muskeln sogar, dass sie im Auto sitzt, um zum Sanitätshaus zu fahren. Um den Anzug zu testen, kommt ein Orthopädietechniker zu ihr nach Hause. Ausnahmsweise.
„Es gibt kein vergleichbares Produkt auf dem Markt, der Exopulse Mollii Suit ist einzigartig. Es ist jedes Mal beeindruckend, wie der Anzug den Anwender:innen hilft. Kleine Dinge des Alltags können wieder möglich werden, andere können ganz grundlegend wieder das Gehen für sich entdeckenDaniel Hublitz, Leiter Marktmanagement NeuroMobility bei Ottobock, über das innovative Medizinprodukt
Entwickelt wurde es von Fredrik Lundqvist, einem Chiropraktiker und Experten für Elektrostimulation aus Schweden. Der Neuromodulationsanzug stimuliert mit 58 integrierten Elektroden von Spastiken betroffene Muskeln und ist damit weltweit der erste Anzug, der sich einen physiologischen Reflexmechanismus zunutze macht: Durch ein elektrisches Signal, das an einen antagonistischen Muskel gesendet wird, entspannt sich der spastische Muskel. Wenn beispielsweise der Bizeps verkrampft, stimuliert der Exopulse Mollii Suit den Trizeps, um den Bizeps zu lockern. Auf diese Weise werden spastische Muskeln entspannt, schwache Muskeln (re)aktiviert und spastisch bedingte Schmerzen vermindert. Mit positivem Resultat: Die Mobilität, der Bewegungsumfang, das Gleichgewicht und die Blutzirkulation werden so verbessert. Kerstin trägt den Exopulse Mollii Suit täglich für 60 Minuten. Diese eine Stunde reicht aus, um die positive Wirkung den ganzen Tag über aufrecht zu erhalten. Der Prozess verläuft nicht-invasiv und nicht-medikamentös und birgt damit eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit für Nebenwirkungen im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungen bei Spastik. Der „Superheldenanzug“, wie er von vielen Patienten liebevoll genannt wird, besteht aus Jacke und Hose sowie akkubetriebener und abnehmbarer Bedienungseinheit. Er eignet sich für Menschen mit neurologischen Bewegungsstörungen wie Zerebralparese und Schlaganfall oder – in Kerstins Fall – Multiple Sklerose.
Als Kerstin sich daran zurückerinnert, wie sie das erste Mal den Anzug getragen hat, wird sie emotional: „Vorher war ich genauso aufgeregt wie vor meinen Geburten. Das war mein allerletzter Strohhalm. Dann war es so weit und ich habe innerhalb von zehn Minuten gespürt, da passiert was in meinem Körper. Und nach einer Stunde war mir klar: Den gebe ich nicht mehr her.“ Es sind nur sechzig Minuten, die den Unterschied ausmachen. Auch Kerstins Physiotherapeutin ist begeistert von den Effekten und Fortschritten ihrer Patientin und hat wieder konkrete Therapieziele mit ihr entwickelt, die über den Erhalt der Beweglichkeit und bloße Schmerzlinderung hinaus gehen.
Erste klinische Studien bestätigen die Wirkung: Bei Patient:innen mit Zerebralparese, Multipler Sklerose und Schlaganfall verbesserte sich nach nur sechzig Minuten im Exopulse Mollii Suit das Gleichgewichtsgefühl, während sich das Sturzrisiko verringerte. Bei regelmäßiger Anwendung alle zwei Tage konnten die Verbesserungen beibehalten werden. In derselben vorläufigen Studie führte eine Stunde im Anzug zu einer signifikanten Linderung von Schmerzsymptomen bei Patient:innen, die diese angegeben hatten. Vier Wochen später verzeichneten die Patient:innen, die den Anzug regelmäßig verwendeten, dank eines Carry-over-Effekts eine dauerhafte Schmerzlinderung.⁴ „Die Rückmeldungen unserer Anwender:innen sind zum Teil überragend. Dabei fallen die Nutzungseffekte sehr unterschiedlich aus – je nach persönlicher Diagnose“, fasst Daniel Hublitz zusammen.
Alles. Ich kann wieder am Leben teilhaben, meine Kraft hat sich vertausendfacht. Ich kann kochen, meinen Haushalt machen, Socken anziehen, schreiben, telefonieren. Ich kann wieder frei atmen, ohne dass die Spastik mich ständig einschließt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Das kann man sich nicht vorstellen. Das Wichtigste ist natürlich: Ich kann wieder voll Mama sein für meine Kinder, der Anzug hat mir wirklich mein Leben zurückgegeben.
Inzwischen hat Kerstin alle Tabletten bis auf eine abgesetzt, kann mit ihrer Familie nach Italien in den Urlaub fahren und sich sogar vorstellen, eines Tages wieder als Erzieherin zu arbeiten. Bis es so weit ist, arbeitet sie daran, den Anzug über Instagram bekannter zu machen. Fast täglich ist sie in Kontakt mit anderen Betroffenen oder ihren Angehörigen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen: „Jetzt haben endlich mal austherapierte, hoffnungslose Fälle wie ich eine Option.“ Kerstins neue Superkraft: Das Gefühl, endlich wieder eine Zukunft zu haben.
- Anwenderfreundlicher Neuromodulationsanzug, bestehend aus Jacke und Hose sowie abnehmbarer Bedienungseinheit
- Hilft Menschen mit Zerebralparese, Multiple Sklerose, Schlaganfall oder Rückenmarksverletzungen und anderen neurologischen Störungen, die ähnliche Symptome versursachen
- Verbessert Mobilität, Gleichgewicht und Blutzirkulation sowie alltägliche Bewegungen wie Gehen und Greifen
Für Menschen mit eingeschränkter Mobilität entwickelt Ottobock seit über 100 Jahren innovative Versorgungslösungen. Als „Human Empowerment Company“ stärkt Ottobock Bewegungsfreiheit, Lebensqualität und Unabhängigkeit. Dahinter stehen über 9.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit Innovationskraft, herausragenden technischen Lösungen und Services aus den Bereichen Prothetik, Orthetik, NeuroMobility und Patient Care befähigen sie Menschen in 135 Ländern, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollen. Als Weltmarktführer in der tragbaren menschlichen Bionik setzt das 1919 gegründete Unternehmen immer wieder neue Standards und treibt die Digitalisierung der Branche voran – gemeinsam mit seinen Partnern, den Sanitätshäusern, sowie internationalen Forschungsinstitutionen. Die Expertise in der Biomechanik überträgt Ottobock seit 2018 auf Exoskelette für ergonomische Arbeitsplätze. Die internationalen Aktivitäten des Unternehmens werden vom Hauptsitz in Duderstadt (Niedersachsen) aus koordiniert. Seit 1988 unterstützt Ottobock die Paralympischen Spiele durch sein technisches Know-how.
¹ Gold R: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie (AWMF-Registernummer 030/050) 2014. Die zehn häufigsten neurologischen Erkrankungen - Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (dgn.org)
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